Gibt es Berge, die als Sinnbild für ihre Heimat stehen, gleichsam ein Markenzeichen? Ja – der Ortler über Sulden, der Großvenediger über Prägraten oder die Wildspitze über Vent. Gemeinsam mit ihnen hat auch unsere Ahornspitze eines: ihre majestätische Dominanz über den Talort. Wie der gesamte Charakter der Zillertaler Alpen erhebt sich auch die Ahornspitze steil und eindrucksvoll über dem Talboden.
Von Mayrhofen bis zum Gipfel sind es ganze 2.340 Höhenmeter. Damit überragt sie die bereits genannten Gipfel zwar nicht in der absoluten Höhe, wohl aber im direkten Anstieg vom Tal zum Gipfel – und das gleich um mehrere Hundert Meter.
Dieses beeindruckende Erscheinungsbild und die bis ins Inntal hinaus unverwechselbar elegante Form des Berges weckten die Aufmerksamkeit eines besonderen Mannes: Peter Karl Thurwieser, des „Ahnherrn der Alpenvereinsbewegung“. Er wurde am 30. Mai 1789 in Kramsach geboren, 1812 zum Priester geweiht und später Professor am Lyzeum in Salzburg. Begeistert von den damals noch jungen Naturwissenschaften, von den Bergen und – wie er es nannte – vom „wohl schönsten und großartigsten der Thäler Tirols“, widmete er sich immer wieder der Erkundung des Zillertals. Schließlich fasste er den Entschluss, die Ahornspitze zu besteigen.
Anschaulich beschreibt Thurwieser, wie sein erster Versuch gemeinsam mit dem Kramer- und Wirtssohn Anton Wechselberger aufgrund Schlechtwetters abgebrochen werden musste. Wie er am 31. August 1840 erneut aufbrach – diesmal in Begleitung des Hilfspriesters Martin Seisl, des Brandberger Vikars Joseph Weinold, des Schullehrers Joseph Thaler und des Bauern Vitus Kreidl als Träger. Erste Station war die Mittellägerhütte, eine Alm im Besitz von Joseph Eberharter, dem „Davidwirt“ von Zell. Dessen Sohn Vitus, der als Senner dort war, bewirtete die Gesellschaft mit kuhwarmer Milch, einem Heulager und Rahm-Mus zum Frühstück – und begleitete sie schließlich auch auf den Berg. Verwundert nahmen die Gefährten zur Kenntnis, dass er selbst harte Schneeflächen barfuß überschritt. Auf die Frage, ob das nicht zu hart sei, antwortete er nur knapp: „Das bin ich so gewohnt.“
Mit jedem Höhenmeter offenbarte sich den Bergsteigern mehr und mehr von der faszinierenden Gletscherwelt des Zillertals – strahlend blaues Eis, mächtige Firne und eine überwältigende Aussicht. Am 01. September 1840 um vier Minuten nach acht Uhr morgens erreichten sie schließlich den Gipfel der Ahornspitze.
Diese Besteigung kann mit guten Recht als die erste touristische Erstbesteigung eines Berges im Zillertal bezeichnet werden. Thurwieser veröffentlichte seine Erlebnisse in einem ausführlichen Bericht: „Die Ahornspitze im Zillerthale. Erstiegen und gemessen im Jahre 01. September 1840.“
So erinnert uns die Ahornspitze seit 185 Jahren täglich daran, wie eng die Geschichte des Zillertals mit den Bergen verwoben ist, und wie damals wird man von ihr eingeladen aufzubrechen, sie zu besuchen, zu staunen – und das Herz im Anblick ihrer Schönheit ein Stück höher schlagen zu lassen. sw