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Teils extreme Lawinengefahr im Zillertal

Fünf Fragen, fünf Antworten von Gerhard Mößmer

Mittwoch, 2. Februar 2022
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Tief Odette leitete diese Woche in unseren Breitengraden eine neue Winterphase ein. „Nach zum Teil orkanartigen Böen steigt die Lawinengefahr vor allem am Hauptkamm durch die vom Wind verfrachteten Schneemassen markant an“, ist von den Experten der ZAMG warnend zu hören.

Grund genug, uns mit dem Basisablaufschema „Notfall Lawine“ von Gerhard Mößmer – AV, näher zu beschäftigen und den wichtigsten fünf Fragen, fünf Antworten: „Was ist, wenn…?“ nachzugehen.

„Eines haben alle Lawinenübungen gemeinsam: Es treten immer dieselben, auf eine ganz konkrete Situation bezogene Fragen auf. Das allgemeine Basisablaufschema „Notfall Lawine“ kann die Vielzahl dieser Spezialfragen freilich nicht beantworten, denn noch etwas haben auch alle Lawinenszenarien gemeinsam: Jedes ist anders!“, weiß Gerhard Mößmer zu berichten und weiter: „Eine Übung zum „Notfall Lawine“ lässt keine SkitourengeherIn kalt und alle möglichen, zum Teil auch abstrusen, Szenarien schwirren den TeilnehmerInnen durch den Kopf.
Primär geht es um FAQs, die tatsächlich bei einem realen Lawinenunfall vorkommen könnten. Es muss immer vor Ort entschieden werden, welches Vorgehen in der konkreten Situation das Beste ist. Deshalb können wir nicht von einer generellen Lehrmeinung sprechen, sondern nur Verhaltenstipps abgeben, die sich genau auf diese Umstände beziehen.

  1. „Wird zuerst der Notruf abgesetzt oder zuerst gesucht?“
    Die Regel lautet: Notruf sofort absetzen, wenn ohne Zeitverlust möglich! Sind mehrere RetterInnen verfügbar, wird von dem/der LeiterIn sofort eine Person für das Absetzen des Notrufs (140 oder 112) bestimmt. Ist man alleine, wird die Sache schwieriger. Bei nur einer verschütteten Person und einem/r RetterIn, die schnell – z. B. von oben kommend mit Ski – am Lawinenkegel ist und die LVS-Suche beherrscht, wird zuerst gesucht. Steht der/die gleiche RetterIn weit unterhalb des Kegels, ist es ratsam, zuerst bzw. während des Wiederaufstieges, also ohne Zeitverlust, den Notruf abzusetzen, da in der Zwischenzeit der Hubschrauber evtl. sogar schneller am Unfallort ist als der/die RetterIn selbst.
  2. „Wie viele Personen suchen?“
    Die Antwort ist 1. von der Anzahl der verfügbaren RetterInnen, 2. von der Größe der Lawine und 3. von der Anzahl der verschütteten Personen abhängig. Bei einer Einfachverschüttung haben wir im Idealfall so viele RetterInnen zur Verfügung, dass wir in der Signalsuche den kompletten Suchbereich abdecken: Beträgt z. B. die Suchstreifenbreite 50 m und ist die Lawine 100 m breit, bedarf es zwei, ist die Lawine 150 m breit, drei RetterInnen.

Bei einer Mehrfachverschüttung gilt es ebenso, den gesamten Suchbereich abzudecken, wobei wir so viele RetterInnen wie Personen verschüttet sind, auf die Suche schicken. Beispiel: Sind zwei Personen verschüttet und ist für die Abdeckung des Suchbereichs aber nur eine Retterin notwendig, werden (natürlich sofern verfügbar) trotzdem zwei RetterInnen auf den Kegel geschickt. Sollten beide auf die gleiche verschüttete Person zulaufen, muss kommuniziert werden, wer diese übernimmt und wer zum nächsten Signal läuft.
Tipp: Eine Person übernimmt ganz klar das Kommando und bestimmt, wer in der Rettung welche Funktionen übernimmt, insbesondere, wie viele Personen suchen!

  1. „Erfolgt die LVS-Suche mit oder ohne Ski?
    Kommt die Kameradenrettung von oben, ist die Antwort klar: Mit Skiern, entsprechend den Suchphasen, wobei die Skier bei Beginn der Feinsuche abgeschnallt werden. Stehen die ReiterInnen unterhalb des Kegels, gibt es zwei Möglichkeiten: Befinden sich die RetterInnen nahe am Kegel, erfolgt bei festerem Schnee die Suche sofort und zu Fuß.
    Was die meisten jetzt überraschen wird: Dieses Szenario ist in der Realität eher die Ausnahme als die Regel, denn frischer Lawinenschnee ist – wie oft fälschlicherweise angenommen – nicht hart, sondern so weich, dass man darin zum Teil hüfttief versinkt und so ein Vorwärtskommen zu Fuß sehr mühsam wird. Deshalb ist besonders bei größeren Lawinen (bzw. Suchbereichen), wo wir zudem noch kein Erstsignal haben, die zweite Variante, nämlich wieder auffellen, die bessere Entscheidung.

Dabei verlieren wir zwar anfangs wertvolle Zeit, die wir aber durch eine deutlich höhere Geschwindigkeit, vor allem in der Signalsuche, wiedergewinnen. Ist die Entfernung zum Kegel so groß, dass der Wiederaufstieg zu Fuß zu kräftezehrend und zeitraubend ist, kommt ebenfalls nur Variante zwei in Frage: Es wird wieder aufgefellt und so schnell wie möglich aufgestiegen.

  1. „Kommen zuerst Schaufel und Sonde aus dem Rucksack oder wird zuerst gesucht?“
    Zuerst wird gesucht, dann – am Ende der Feinsuche – kommen Schaufel und Sonde aus dem Rucksack. Entgegen der langjährigen Lehrmeinung haben wir die Empfehlung aus mehreren Gründen geändert:
  2. Mit Skiern von oben kommend funktionierte sie nicht: Abfahren mit LVS-Gerät, Schaufel, Sonde und Skistöcken in der Hand schaffen nur wenige.
  3. Beim Zusammenbauen am Beginn wurde häufig der Rucksack mit dem Erste Hilfe-Paket vergessen.
  4. Die schnelle Fortbewegung am Lawinenkegel mit Schaufel und Sonde in der Hand war sehr mühsam. Was am Trainingsfeld noch recht gut funktionierte, klappt auf einer echten Lawine nur mehr bedingt und die Sonde konnte leicht zu Bruch gehen.
  5. Stellte sich in der Feinsuche heraus, dass die verschüttete Person nur wenige Zentimeter unter der Schneeoberfläche lag, hatte man die Sonde im Vorfeld umsonst zusammengebaut und wertvolle Sekunden verloren. Den niedrigsten Wert in der Feinsuche kann man nun mit einer Mütze, einem Handschuh, einem Stirnband etc. markieren, da die Schaufel ja nicht zur Hand ist.
  6. „Ich bin als RetterIn alleine, zwei Verschüttete, bei der ersten
    Person geht die Anzeige in der Feinsuche nicht unter „2“. Was tun?“

    Die fünfte und letzte Frage ist mit Sicherheit die moralisch und ethisch anspruchsvollste und jeder von uns hofft, diese Entscheidung niemals treffen zu müssen. Nachdem wir wissen, dass 1. die statis-tische Überlebenschance bei einer Verschüttungstiefe von zwei Metern (und mehr) sehr gering ist und 2. das Ausschaufeln und Freilegen der Atemwege mit Sicherheit mehr als die ominösen 15 Minuten in Anspruch nehmen wird, lautet die Empfehlung – ähnlich einer Triage -,
    zum nächsten Signal zu gehen. Ist die zweite Person eventuell nur wenige Zentimeter tief verschüttet, hat diese deutlich höhere Überlebenschancen …

Gerhard Mössmer ist Mitarbeiter der Abteilung Bergsport im Österreichischen Alpenverein, Bergführer und gerichtlich beeidigter Sachverständiger.

Zillertaler Zeitung

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